Auf dem Schlern, so erzählt man sich seit Jahrhunderten, trafen sich die Hexen aus dem gesamten Umland zum Hexensabbath, der Berg galt geradezu als der „Blocksberg“ Tirols. Auf allerlei Gerät, vom Besen über die Ofengabel bis zum Melkstuhl, kam das Hexenvolk an bestimmten Nächten daher geflogen, um ihre lästerlichen Feste zu feiern, mit Tanz, Spiel und Zechgelagen. Den Vorsitz führte der Höllenfürst, der übrigens auf der lange als unersteiglich geltenden Santnerspitze seinen Wohnsitz gehabt haben soll. Von seinem teuflischen Zacken aus war es nur ein Katzensprung zum gräulichen Festplatz. Der Volksmund kennt bis heute mehrere Örtlichkeiten, wo sich der nächtliche Spuk abgespielt haben soll. Selbst der Petz, der höchste Punkt auf dem Schlern-Plateau, war ein berüchtigter Hexentreff. Was Wunder, dass man sich ängstlich hütete, nach Einbruch der Dunkelheit in dem verrufenen Gebiet unterwegs zu sein. Nun ist ganz Südtirol reich an sagenhaften Überlieferungen. Rund um den Schlern nimmt das Sagengut aber ganz besondere Züge an. Hier mischen sich ladinisch-romanische und deutschtirolerische Traditionen, historische Reminiszenzen und phantastische Versatzstücke gehen durcheinander, Vision und Wahrheit sind schwer auseinander zu klauben, denn es muss ja „was dran“ an den alten Geschichten, so die Volksmeinung.Die Überzeugung von der prinzipiellen historischen Verifizierbarkeit alter Vorstellungen ist ein Erbe aus der Romantik, als die Gründungsväter der Erzählforschung, die Brüder Grimm, die soeben entdeckte Zeitentiefe kulturhistorischer Prozesse unterschiedslos auf althochdeutsche Mythen, mittelalterliche Liedtexte und mündlich überlieferte Sagen und Märchen übertrugen. Als besonders folgenschwer erwies sich dabei die von Jacob Grimm postulierte Überlegung, dass die Sage „historischer“ sein könne als das „poetische“ Märchen.Dass in alten Sagen ein historisch „wahrer“ Kern stecken kann, hat durchaus seine Richtigkeit, doch meist erzählen die hübschen Überlieferungen keine wirklichen Ereignisse, dafür jede Menge Unsinn. Dass auf unserem Tiroler Blocksberg, dem Schlern, an bestimmten Tagen das Hexenvolk auf Besen und Ofengabeln angeritten kam, ist mit Sicherheit auszuschließen; doch kann mit ebensolcher Sicherheit gesagt werden, dass im gesamten Schlerngebiet uralte Siedlungsspuren nachgewiesen wurden, dazu bedeutsame bronzezeitliche Brandopferplätze und weitere Überreste sakraler Stätten. Es liegt nahe zu vermuten, die Volkssage habe sich an die „Deutung“ solcher Spuren gemacht.(Tobia Moroder, Kultplätze der Heiden – Tummelplätze der Hexen, „Storicamente“, 4 (Bologna, 2008). ISSN: 1825-411X. Art. no. 28. DOI: 10.1473/stor344.) Die Sagen berichten aber nicht, dass am Bild des Hexentanzes uralte, längst versunkene und nicht mehr verstandene Sakralvorstellungen haften, sondern erzählen höchst lebendig von dämonischem Teufelsspuk. Das ist leibhaftig gesehen worden, und die Hexenprozesse mit all ihrem düsteren Grauen waren eine nur allzu schreckliche Wirklichkeit. Dem Weltverständnis des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit ist die Hexe eine „Tatsache“, als geglaubte Gestalt ebenso wie als juristische Definition.Die Völser Hexenprozesse von 1506 und 1510 haben sich tief in die Historie ganz Tirols eingeschrieben: Die gut dokumentierten Ereignisse auf Schloss Prösels markierten einen ersten Höhepunkt der wahnhaften Hexenverfolgung, die vom späten 15. bis weit ins 17. Jahrhundert hinein ganz Europa in immer wieder aufflammenden Wellen erfasste.
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Über das Phänomen des Hexenwahns gibt es eine fast nicht mehr überschaubare Literatur, und völlig enträtselt ist diese „Zeit der Verzweiflung“ bis heute nicht. Inzwischen ist sich die Forschung weitgehend darin einig, das hochkomplexe Phänomen als Ergebnis vieler verschiedener Ursachen zu analysieren, die sich gegenseitig bedingten, verstärkten oder auch widersprachen. Die Hexe als dämonische Figur in der Wildnis hat es immer gegeben, doch erst in der Krisenzeit im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit wurde sie zur Symbolfigur des Bösen, das in der Mitte der Gesellschaft Fuß gefasst hatte und also gnadenlos bekämpft werden musste. Die theologisch-juristische Grundlage der inquisitorischen Hexenprozesse, der berüchtigte Hexenhammer des Dominikaners Heinrich Kramer erschien erstmals 1486 und erschuf überhaupt erst das Bild des „Teufeldienstes“, dem Tausende unschuldiger Menschen zum Opfer fielen. Erst die Aufklärung machte dem Spuk ein Ende: 1631 erschien die Streitschrift Cautio Criminalis des Jesuiten Friedrich Spee, der die rechtliche Praxis der Inquisitionsverfahren in Frage stellte und dem Unwesen des Hexenwahns entgegentrat. Es sollte aber noch ein Jahrhundert dauern, bis der Aberglaube aus den Gesetzbüchern verschwand.Zum 500. Gedenkjahr der Völser Hexenprozesse erarbeitete Elmar Perkmann eine breite Dokumentation über Die Völser Hexenprozesse 1506 und 1510.